Retrospektiven
Schätze des georgischen Kinos
11.4.–14.5.2024
»Georgien ist ein Traum. Es existiert gar nicht«, sagte Otar Iosseliani anlässlich einer Retrospektive seiner Filme vor einigen Jahren. Für »Georgien« könne er die Worte »Poesie« oder »Freiheit« einsetzen. Der im Dezember verstorbene Regisseur war einer der bekanntesten Filmkünstler seines Landes, der mit seiner Arbeit ganz wesentlich zum exzellenten Ruf, den das georgische Kino im Westen genießt, beigetragen hat. Surrealer, oft fantastischer Humor, satirischer Scharfblick und vor allem eine ganz eigensinnige, poetische Bildsprache zeichnen dieses Kino aus, das sich aus der kulturellen Tradition des Landes entwickelt hat und die Einflüsse von Literatur, Musik, Malerei, Theater oder Tanz stets offen herausstellt. Seine Geschichte reicht weit zurück in die Stummfilmzeit: Bereits 1896 finden die ersten Filmvorführungen in Tbilissi/Tiflis statt, von da an entwickelt sich stetig ein unverwechselbares, stilistisch reiches Kino, das, oft in versteckter Form, die Geschichte und den Zustand des Landes widerspiegelt.
Einen ersten »Boom« erlebt das georgische Kino in den 1920er-Jahren, als es zwar in die administrativen und industriellen Strukturen aus Moskau eingebunden ist, aber große Künstlerpersönlichkeiten wie Michail Kalatosischwili oder Nikolai Schengelaia hervorbringt. Zum Teil erreichen deren Werke auch die westlichen Kinos, andere wiederum wurden entweder als zu formalistisch oder zu kritisch weggesperrt und erst Jahrzehnte später entdeckt. Als nach Stalins Tod 1953 die Tauwetter-Periode einsetzt, erhält der georgische Film einen weiteren Aufschwung. RegisseurInnen wie Tengis Abuladse, Michail Kobachidse, die Brüder Eldar und Giorgi Schengelaia (Söhne von Nikolai) oder Lana Gogoberidse profilieren sich mit jeweils sehr persönlichen Arbeiten, die sich häufig durch ihren unübersehbaren Gegenwartsbezug auszeichnen. Viele von ihnen, so auch Iosseliani, studierten entweder in Moskau oder in Teheran, wo sie mit dem italienischen Neorealismus in Berührung kamen, welcher ihre eigene Sicht auf die Welt nachhaltig beeinflusst. Eine Sonderstellung nimmt dabei Sergei Paradschanow ein, der mit seiner unverkennbaren Handschrift einen verdienten Platz im Olymp der Kinogötter eingenommen hat. Obwohl Zensoren immer wieder versuchen, das große kreative Potenzial dieser FilmemacherInnen zu beschneiden, nehmen diese sich immer größere Freiheiten und sprechen ganz unverblümt die politischen Tabus des kommunistischen Regimes an, das 1991 mit der Unabhängigkeit Georgiens Geschichte ist: der Beginn eines langen, schmerzhaften Transformationsprozesses. (Florian Widegger)