Retrospektiven
V'21: Henrik Galeen
Filmautor des Weimarer Kinos
24.10.–2.11.2021
Eigentlich liest sich das Wenige, was man über Henrik Galeens Werdegang weiß, so wie viele andere Künstlerbiografien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Geboren als Heinrich Galeen am 7. Jänner 1881 in Lemberg im damaligen Österreich-Ungarn, beginnt er sich schon früh für die Fotografie zu interessieren. Mit 13 schenkt ihm sein Vater den ersten Apparat mitsamt Entwickler und Chemikalien. Später führt ihn sein Weg als Schauspieler auf Wanderbühnen über Wien nach Berlin, wo er ab 1906 als Assistent von Max Reinhardt in Erscheinung tritt. Die Reichshauptstadt zieht in dieser Zeit unzählige Kreative an, die auf den Theater- und Filmbühnen ihr Können zeigen. Galeen trifft hier auf zwei Männer, die seinen Werdegang maßgeblich beeinflussen: zum einen auf den Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, der 1913 mit DER STUDENT VON PRAG einen der ersten Horrorfilme überhaupt dreht, an dem Galeen als Regieassistent mitarbeitet, zum anderen auf den Schauspieler Paul Wegener, der ebendiesen Studenten verkörpert und selbst an einem okkulten Stoff werkt. Wegener und Galeen tun sich zusammen, verfassen das Drehbuch zum ersten von insgesamt drei GOLEM-Filmen und erschaffen so – beide vor und hinter der Kamera – eine Sensation, die die Zuschauer in Scharen in die Lichtspielhäuser lockt. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erfährt die Karriere jedoch eine erste Zäsur. Galeen wird einberufen und kann später, dank der Nationalität seiner Ehefrau, nach Schweden auswandern. Nach dem Krieg kehrt er zurück nach Berlin, wo er als Dramaturg bei der zum UFA-Konzern gehörenden Messter-Film GmbH unterkommt.
1920 erscheinen zwei Filme unter seiner Regie: der heute verschollene DER VERBOTENE WEG, dessen Untertitel »Ein Drama mit glücklichem Ausgang« verheißt, und der momentan leider unzugängliche JUDITH TRACHTENBERG. DIE TRAGÖDIE EINER JÜDIN. Beide erzählen vom Machtmissbrauch durch Amts- und Würdenträger, denen jedes Mittel recht ist, um schönen Frauen die Ehre zu rauben, oder, wie es im Film-Kurier heißt: von »männlicher Unanständigkeit«. Stoffe wie diese liegen im Trend, ebnen den Weg zu noch schlimmeren Gestalten, die die Leinwand in Kürze heimsuchen werden. Siegfried Kracauer, dem Galeen viele Jahre später im Exil noch ein Interview für dessen Studie »Von Caligari zu Hitler« geben wird, analysiert darin unter anderem die Faszination der deutschen Filme für die Schilderung von Tyrannenfiguren, welche in CALIGARI und später speziell bei NOSFERATU und DAS WACHSFIGURENKABINETT zu besonderer Ausprägung gelangen: »In diesem Filmtypus hegten die Deutschen jener Zeit […] keinerlei Illusionen über die möglichen Folgen der Tyrannei; im Gegenteil: man gefiel sich in genauer Einzelschilderung ihrer Verbrechen und Leiden, die sie mit sich bringt. […] Beschwor man diese Schreckensvisionen, um Gelüste auszutreiben, die man als die eigenen empfand, von denen zu befürchten stand, sie könnten einen selbst besitzen?«
Obwohl NOSFERATU heute als Horror-Klassiker schlechthin gilt, wäre der Film beinahe zum Stolperstein für Regisseur Murnau und Autor Galeen geworden. Anfang der 1920er-Jahre gilt Filmemachen als großes Abenteuer, für das kein noch so großes Risiko gescheut wird. Die Produktionsfirma verzichtet darauf, die Rechte an Bram Stokers Dracula zu erwerben, Galeen verändert daraufhin die Namen der Figuren und setzt inhaltlich neue Akzente, indem er etwa den Vampir als Überbringer der Pest zeichnet – ein Verweis auf die an Toten reichen Jahre in Europa seit 1914. Es folgt ein Rechtsstreit – nicht der einzige, den man zu dieser Zeit führt. Auch sein Drehbuch zu DAS WACHSFIGURENKABINETT wird in einen solchen hineingezogen: Da sich die Realisation des Films über Jahre hinzieht, versucht Galeen sein Buch in abgewandelter Form an andere Produzenten zu verkaufen, was wiederum seinen Auftraggeber dazu zwingt, rechtliche Schritte einzuleiten. Als der Film 1924 endlich erscheint, blickt er auf eine nicht minder abenteuerliche Entstehungsgeschichte zurück wie NOSFERATU.
Galeen arbeitet in dieser Zeit in unterschiedlichen Funktionen an zahlreichen mittlerweile vergessenen oder gar verschollenen Filmen mit. STADT IN SICHT darf als interessante Stilübung gewertet werden, die in gewissem Sinne Jean Vigos L’ATALANTE vorwegnimmt und eine Beziehungstragödie auf engstem Raum erzählt. Er dreht mit Joe May und verfasst leichte Komödien-, Abenteuer- und Sensationsstoffe für den befreundeten Superstar des Weimarer Kinos, Harry Piel. 1926/27 entstehen seine beiden Hauptwerke als Regisseur, DER STUDENT VON PRAG und ALRAUNE, beides Remakes bekannter und beliebter Stoffe nach literarischen Vorlagen von Hanns Heinz Ewers, die erneut sein Faible und seine Kunstfertigkeit im Fantastischen belegen. In England dreht er 1928 mit Olga Tschechowa und ihrer Produktionsfirma den Krimi AFTER THE VERDICT und arbeitet unter anderem als Produktionsleiter. Zurück in Deutschland, erscheint 1933 mit dem Spionagefilm SALON DORA GREEN sein letzter Film, bevor er sich endgültig ins Ausland absetzen muss. Er emigriert zunächst über England nach Schweden und 1940 in die USA, wo sich seine Spuren langsam verlieren. Berichtet wird, dass er mit seinem Sohn in New York eine Bäckerei betreibt, später eine Adelige heiratet und gemeinsam mit ihr Puppen herstellt. Neben dem bereits erwähnten Gespräch mit Kracauer hält er nur mehr sporadisch Kontakt zu anderen emigrierten Filmemachern. So verfasst er 1943 mit Paul Falkenberg, einem ehemaligen Mitarbeiter G. W. Pabsts, eine antifaschistische Aktualisierung des GOLEM-Stoffs. Nach längerem Krebsleiden stirbt Galeen schließlich am 30. Juli 1949 in Vermont.
In seinen Horrorfilmen erweckt er Schattengewächse zum Leben, die uns oft ähnlicher sind, als uns lieb sein kann. Auf diese Weise erforscht er die dunklen Seiten der menschlichen Seele, unseres Daseins. Galeen mag als Filmemacher selbst (noch) nicht in der vordersten Reihe mit Zeitgenossen wie Lang, Murnau oder Wiene gesehen werden, sein Verdienst rund um die Entwicklung des expressionistischen Kinos der 1920er-Jahre ist dennoch unbestritten. Vielleicht liegt es auch an der vornehmen Zurückhaltung, in der sich der Weimarer Filmautor sein Leben lang übt. In einem der raren autobiografischen Dokumente, einem Artikel aus der Zeitschrift »Der Film« aus dem Jahr 1926, schreibt er über sich, seine Arbeitsweise, sein Selbstbild: »Allen Mitwirkenden habe ich stets eine Atmosphäre der künstlerischen Freiheit eingeräumt; dieses erscheint mir als das erstrebenswerte Wissen [sic!] eines Filmregisseurs. Nur dort, wo die persönliche Leistung eines Mitwirkenden den Rahmen des Ganzen zu sprengen drohte, habe ich gebremst, abgerundet, um die Einheit des Werkes zu erhalten … doch bin ich fest davon überzeugt, dass so mancher Besucher, der die Bilder des STUDENT VON PRAG vor sich abrollen sieht, hier und dort, trotz aller Vermeidung des selbstsüchtigen ›Ichs‹ mein individuelles behutsames Wollen und Streben erkennen wird. Und dies ist mir höchste Genugtuung und lohnabtragende Freude zugleich!« (Florian Widegger)