Retrospektiven
Österreich real
Das Private | Das Politische
7.5.–17.6.2023
»Hierzulande hat man den Dokumentarfilm lange verdrängt, obwohl und gerade weil dieser besonders zur Reflexion der gesellschaftlichen Realität und nationalen Identität in der Lage wäre.«
Christa Blümlinger, 1986
Krisenzeiten seien Treibhäuser des Dokumentarfilms, schreibt Klaus Kreimeier 1993. Das gilt erstmal ganz allgemein – jenseits der konkreten nationalen, lokalen und zeitlichen Kontexte: Krisen bringen Konflikte mit sich, Konflikte erzeugen Reibung und versammeln unterschiedliche Perspektiven zu einem Dialog oder Streit. In Krisen wird etwas sichtbar, der Charakter eines Menschen, die Strukturen des Gesellschaftlichen und deren Verhältnis zueinander. Das das Auge mit dem Denken und Fühlen ineinander verschaltende Medium Film trifft in Krisen auf eine potenzierte Sichtbarkeit, in der die Struktur, die das Wahrnehmbare auf einer tieferen Ebene zusammenhält – »das Funktionale« (Brecht) –, mit hervortritt. Es verhält sich mit der Realität im Dokumentarfilm wie mit der filmischen Apparatur im Kino: Diese wird immer dann sichtbar, wenn sie ins Stottern gerät, unrund läuft, Risse entstehen.
Christa Blümlinger, die sich als eine der ersten mit dem Dokumentarfilm in Österreich beschäftigte, schreibt 1986, dass das Land ein spezifisches Verhältnis zu dieser filmischen Gattung habe: »Hierzulande hat man den Dokumentarfilm lange verdrängt, obwohl und gerade weil dieser besonders zur Reflexion der gesellschaftlichen Realität und nationalen Identität in der Lage wäre. In einem Land, das seine kulturelle Identität immer noch aus ›mundgerechten‹ Darbietungen des barocken Theaters und der Operette herleitet, scheint es besonders schwierig zu sein, die Sensibilität für ein Medium, das die Wirklichkeit hinterfragt, zu wecken.« Der Dokumentarfilm floriert also nicht nur in der Krise, er ist selbst die Krise einer bestimmten Form der Repräsentation, die die zu einfachen, glatten Bilder und Selbstbilder, in denen Einzelne, die Gesellschaft, ein Nationalstaat sich selbst begegnen, aufbricht und zum Straucheln bringt.
Die Breite der Produktions-, Rezeptions- und Diskursstrukturen und nicht zuletzt der filmischen Formen der dokumentarischen Gegenwart in Österreich waren zu dieser Zeit noch nicht abzusehen, ohne die Einführung eines Filmförderungsgesetzes wären sie in der gegenwärtigen Form auch nicht entstanden. Rund zehn Jahre dauerten die Forderungen nach und Verhandlungen zu einem solchen Schritt, bis er 1981 realisiert wurde. Eine solche politische Entscheidung ist lesbar als das – im Vergleich zu vielen angrenzenden Ländern späte – Bekenntnis eines Staats zu einer Filmkultur. Auch zuvor hatte der Dokumentarfilm in Österreich schon – vereinzelt zum Ende der 1960er-Jahre, verstärkt, vor allem im Fernsehen, in den 1970er-Jahren – beachtenswerte Filme hervorgebracht, das Fundament für eine Kultur des Dokumentarfilms, über Jahre entwickelte Handschriften, ein Selbst-Bewusstsein und Diskurs waren da aber noch nicht vorhanden.
Der zur Viennale 2022 präsentierte Sammelband »Österreich real: Dokumentarfilm 1981–2021« fokussiert entlang von 25 längeren Texten, rund 50 Vignetten (zeitgenössische Filmkritiken, Interviews, Filmprogramme und Texte von FilmemacherInnen) und rund 250 Filmstills diese Breite des Dokumentarfilms in Österreich. Sichtbar werden soll darin vor allem die Vielfalt der filmischen Formen und Zugänge zur Realität, um in genau dieser Vielheit die produktiven Krisen zu kartografieren, die der Dokumentarfilm in Österreich hervorgebracht hat. Es geht weniger darum, wie die eine oder andere herausragende künstlerische Perspektive zu beschreiben wäre, sondern um den Dialog der Filme mit- und untereinander.
Die Publikation wird in den nächsten Monaten von einer mehrteiligen Filmschau im METRO Kinokulturhaus begleitet, das vorliegende Programm mit seinem Fokus auf Krisenzeiten bildet hierzu den Auftakt. In fünf Konstellationen von Kurz- und Langdokumentarfilmen aus der Zeit zwischen 1973 und 2018 wird die Krise als Motor unterschiedlichster Formen des Dokumentarischen und das Dokumentarische in Österreich als vielgestaltige Hervorbringung produktiver Repräsentationskrisen sichtbar. Im ersten Programm »Die Krise ist der Markt« verhandeln AUF AMOL A STREIK, EINE MILLIONEN KREDIT IST NORMAL, SAGT MEIN GROSSVATER und MICHAEL BERGER. EINE HYSTERIE jene Momente einer vom Markt bestimmten Welt, in denen dessen tiefere psychosozialen und politischen Bruchstellen sichtbar werden, sei es in dem militant-aktivistischen Einfangen eines Streiks, der subjektiven Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte oder der essayistischen Reflexion der globalen Marktnetze. Goran Rebićs DURING THE MANY YEARS und Barbara Alberts SOMEWHERE ELSE treffen in »Nach dem Krieg ist vor dem Krieg« aufeinander. Sie markieren jenen Moment, in dem das Ende des Eisernen Vorhangs den filmischen Blick in Österreich immer wieder nach Osten gleiten ließ. Wo Rebić – zu Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien – nach Georgien im ersten Jahr der Unabhängigkeit blickt, fragt Albert am Ende des Krieges in Sarajevo die jungen Menschen nach ihren Erfahrungen. Gemeinsam ist beiden Filmen eine Form, die den Menschen vor Ort einen filmischen Raum gibt, in dem sie ihre Sicht, ihre Eindrücke, ihre Fragen im Kontext prekärster Verhältnisse formulieren können. Rebić kehrt ein Jahr später nach Tiflis zurück, um den Bildern des ersten Films in AM RANDE DER WELT jene des mittlerweile in vollem Gang befindlichen Bürgerkriegs anbei zu stellen. Die Krise nicht so sehr als hervorstechende Ausnahme, sondern als ein das Leben begleitenden Dauerzustand beschreibt das Programm »Krise: Leben«, in dem John Cook in ICH SCHAFF’S EINFACH NIMMER den Alltag eines Roma-Boxers und seiner Frau im Wien der 1970er-Jahre beschreibt, Gerhard Benedikt Friedl in KNITTELFELD die Fiktion einer desolaten, Generationen übergreifenden Familiengeschichte in der Provinz auf die formale Trockenheit einer Reihe von Panoramaschwenks treffen lässt und Michaela Tascheck mit DOPPELGÄNGER der Lebenskrise ihres Vaters in Home Movies nachspürt. Die bewegten Bilder und ihre Dispositive berichten nicht nur von Krisen. In »Krieg und Liebe in Wien« werden sie selbst Brennpunkte krisenartiger Bewegungen, etwa im Aufeinandertreffen von Lokalem und Globalem durch das Fernsehen in Michael Glawoggers und Ulrich Seidls KRIEG IN WIEN oder der amourösen Zuneigung zum Kinoraum in Anja Salomonowitz’ CARMEN. Die Kunst, vor allem die Kunst des Dokumentarfilms, geht aus von, beschäftigt sich mit und stellt selbst Krisen her: Im letzten Programm »Kunst und Krise« verdichten diesen Aspekt zwei radikal unterschiedliche Filme, die beide auf je eigene Weise von KünstlerInnen erzählen, denen die Krisenhaftigkeit ihres direkten Umfelds zentraler Moment künstlerischen Handelns ist: Diese lagert sich manchmal, wie im Fall von James Ellroy in Reinhard Juds gleichnamigem Film, als manische Beschäftigung mit den Figuren, Mythen und Bildern eines Ortes ab. Sie kann aber auch, wie im Fall der Poetin Semra Ertan, zur letzten noch gangbaren Möglichkeit eines Protests werden, der auf eine existenzielle Krise verweist.
Das hier präsentierte Programm kann kein Bild des Dokumentarfilms in Österreich in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren vermitteln. In Andeutungen und filmischen Kombinationen kann es aber von einer Vielheit erzählen – der Formen, der Zugänge, der Situiertheiten und Anlässe –, die extrapoliert eines der zentralen Merkmale des Dokumentarfilms in Österreich ist. Aus dieser Beobachtung wiederum ließe sich der Dokumentarfilm gerade in seiner Formenvielfalt als durchgehende, in tausend Formen schillernde Krise der zu einfachen Erzählungen, der zu glatten Bilder, der zu reinen Identitäten beschreiben. So vielleicht wäre wirklich einmal von einer »Krise als Chance« zu sprechen. (Alejandro Bachmann, Michelle Koch)
Auf »Krisenzeiten« folgen im Dezember – zur Einstimmung auf Weihnachten – »Familienangelegenheiten« in unterschiedlichsten Konstellationen. Ob beim gemeinsamen Urlaub oder Wiedersehen nach langer Zeit – rasch offenbaren sich Konflikte und Bedürfnisse, die so vielgestaltig sind wie die Filme und ihre Zugänge selbst. Nur auf den ersten Blick begeben sich die FilmemacherInnen, wenn sie ihre Familien ins Zentrum rücken, dabei auf sicheres Terrain: denn je höher der Grad der persönlichen Involvierung, desto größer das Risiko der Grenzüberschreitung.
Die Frage ist so alt wie die Kunst selbst: Wo hört beim Film die Realität auf und wo beginnt die Inszenierung? Und seit geraumer Zeit um eine nahezu moralische Komponente ergänzt: Wie weit darf die Inszenierung im Rahmen des Dokumentarischen überhaupt gehen? Die sechs Beispiele, die wir in diesem Programm präsentieren, erörtern diese Problemstellungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, demonstrieren jedoch vor allem die Vielfalt an Zugängen und Strategien, bewährte Repräsentationsmuster zu durchbrechen, um sich vom Primat der bloßen Abbildung von Realität zu lösen, sie zu verdichten und sie letzten Endes auch auszustellen.
»Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise.« Gemäß diesem Rat von Kurt Tucholsky nehmen Filme, die von fremden Ländern, Kulturen und Menschen erzählen, im österreichischen Dokumentarfilmschaffen nahezu eine Sonderstellung ein. Sie erfüllen dabei weit mehr als nur die Sehnsucht des Publikums vor der heimischen Kinoleinwand nach der Ferne und sind häufig (mehr oder weniger vordergründig) auch von einem politischen Anspruch getrieben, indem sie etwa die Auswüchse des Kapitalismus in einen globalen Zusammenhang stellen. Die Auswahl von neun Programmen nimmt uns zunächst mit in unterschiedliche Regionen unseres Planeten, versucht darüber hinaus jedoch auch eine Vielfalt an ästhetischen und inhaltlichen Zugängen aus den letzten 40 Jahren abzubilden.
Blicke auf Geschichte(n) über, mit und vor allem von Frauen bilden den Abschluss unseres groß angelegten Streifzugs durch das Dokumentarfilmschaffen in Österreich. Die in diesem Programm vorgestellten Arbeiten legen die Nachwirkungen von Geschichte und überholten Denkmustern offen und stellen damit gesellschaftliche Verhältnisse an sich in Frage. Daraus ergibt sich nicht nur ein überaus vielschichtiges Kaleidoskop der Formen und Zugänge, sondern auch – und vor allem – die Erkenntnis, dass das Streben nach einem selbstbestimmten, guten Leben uns alle angeht und noch lange nicht vorbei ist. So werden aus der Rekonstruktion von Erinnerung und Analyse der Gegenwart engagierte Aufrufe an die Zukunft.