Retrospektiven
Landvermessung #1
»Heimat – welche Heimat?«
9.1.–4.2.2025
Zum 70-jährigen Bestandsjubiläum präsentiert das Filmarchiv Austria nach vielen Jahren wieder eine größer angelegte, über das gesamte Jahr 2025 ausgebreitete Retrospektive zur österreichischen Filmgeschichte. Seit Beginn einer eigenständigen Filmproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich ein durchaus eindrucksvolles audiovisuelles Erbe formiert, das immer wieder neu gesehen und neu entdeckt werden will. In der Regel sind Filme immer Abbilder kultureller, aber auch kulturindustriell determinierter Produktionsbedingungen und Realitätserfahrungen. Die Art und Weise, wie Wirklichkeiten ein- und ausgeblendet werden, wie Zäsuren und Brüche geklittert oder auch offengelegt werden, beglaubigen ihren Stellenwert. Ein ernsthaftes Rendezvous mit der Filmgeschichte ist daher auch so etwas wie eine retrospektive Landvermessung, eine Expedition in die Tiefenschichten der österreichischen Identität.
Der Filmkritiker Helmut Färber hat einmal vom Kino als letzte Form der mündlichen Überlieferung gesprochen. »In jedem einzelnen Film lebt bewusst und unbewusst eine Erinnerung an frühere, und spätere kündigen sich an. Die Filme erzählen ähnliche Geschichten, erzählen die gleichen immer wieder neu, dabei verändernd, modernisierend, vergessend, verwechselnd, verwandelnd.« Mit der Landvermessung blickt das Filmarchiv Austria auf einen schillernden, vielschichtigen und oft widersprüchlichen Kinokosmos, und legt Fährten für einen Parcours durch diese historisch gewordene Filmlandschaft mit all ihren Auffaltungen, Spalten, Brüchen und Übergängen. Bildmächtige Momente des kollektiven Gedächtnisses stehen dabei neben Augenblicken der Irritation und des Widerständigen, Strömungen und Gegenbewegungen werden in der Zusammenschau sichtbar.
Die Landvermessung entwirft eine österreichische Filmgeschichte nicht als chronologische Abfolge von Meilensteinen, sondern als eine Anordnung von Themen und Motiven, auf die sich die heimische Kinoproduktion immer wieder bezogen hat – und die Ankerpunkte für die monatlichen Schwerpunktprogramme bilden. Ziel der Landvermessung ist es, die Topografie des österreichischen Kinos in ihrer ganzen Breite und Tiefe sichtbar zu machen, um auch Perspektiven für das Überraschende, Unerwartete oder auch Verschüttete zu öffnen.
Spätestens hier kommt die Filmarchivarbeit ins Spiel. Gestärkt vom Bewusstsein, dass letztlich nur die wieder sichtbaren und wieder zeigbaren Filme zählen, gilt es in erster Linie, verloren geglaubte Bilder wiederzugewinnen und schmerzliche Überlieferungslücken zu schließen. Gegen die weltweite Tendenz, dass die wirtschaftliche Kraft eines Filmprojekts auch die Qualität der Überlieferung und damit die filmhistorische Wahrnehmung bestimmt, sind die Anstrengungen der Archivarbeit auszurichten.
Bis heute ist es dem Filmarchiv Austria gelungen, den Überlieferungs-Status des österreichischen Films durch zahlreiche Sammel- und Restaurierungsprojekte entscheidend zu erweitern. Für die Stummfilmzeit etwa konnten die im Filmarchiv aufbewahrten Materialien seit der Jahrtausendwende mehr als verdreifacht werden, die Tonfilmproduktion bis 1945 liegt mittlerweile nahezu vollständig vor. Und auch für die Periode der Nachkriegszeit sind viele Neuentdeckungen und Sammlungsergänzungen zu verzeichnen.
Den vermeintlichen Marginalien, den sprichwörtlichen Außenseiterproduktionen, hinter denen keine kommerziellen Interessensvertreter (mehr) stehen, gebührt die besondere Aufmerksamkeit der Landvermessung. Denn gerade diese entpuppen sich retrospektiv mitunter als jene Utopien, die Bewegungsrichtungen eines alternativen österreichischen Kinos andeuten. Dort, wo sich die Erschließungsarbeit von leidigen Kanonüberlegungen befreit, können Filmarchive den Blick auf die (Film-)Geschichte tatsächlich erweitern und vielleicht sogar verändern.
Im besten Fall gelingt es der Landvermessung, das überlieferte und nun breiter ausgestellte Filmerbe im Geschichtsjahr 2025 als jenes kollektive Erinnerungs- und Gedächtnisinventar ins Spiel zu bringen, das in der allgegenwärtigen audiovisuellen Bilderflut Mosaiksteine, Bruch- und Versatzstücke einer österreichischen Identität sichtbar und begreifbar macht. (Ernst Kieninger)
»Heimat: Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.«
Ernst Bloch
Spricht man vom Heimatfilm, entstehen ganz schnell Klischeebilder, die das Genre vor allem in der Wiederaufbau-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat. Damals wurde die Heimat zu einem kulturindustriell konstruierten Rückzugsraum, überfrachtet mit Projektionen einer noch heilen Welt. Erfolgreiche Assets waren die fremdenverkehrstaugliche Naturkulisse und die Habsburg-Ikonografie, die, zusammen als Heimat verkauft, ganz klar auch auf den deutschen Markt ausgerichtet waren. Damit konstituierte das Kino eine durchaus stabile Erzählung österreichischer Identität, innerhalb der sich Fremdbilder zusehends in Selbstbilder verwandelten. Ein kinematographisches History-Land, das problemlos auch mehrheitsfähige Geschichtsbilder aufnahm, auf die man sich immer wieder berufen konnte.
Heimat als Wirklichkeitsort zu begreifen oder darin gar eine Utopie im Sinne Ernst Blochs zu sehen, »die uns in der Kindheit schien – und in der noch niemand wirklich war«, dies blieb dann vor allem dem neuen österreichischen Kino und einigen seiner interessanten Wegbereiter vorbehalten.
Immer schon war der Heimatbegriff ein Resonanzraum für Zuschreibungen des Eigenen, für das, das man gerne mit Herkunft und Zugehörigkeit bezeichnet. Der erste Teil der Landvermessung fragt daher nach diesem identitätsstiftenden Motiv, das sich seit Anbeginn durch die Filmgeschichte gezogen hat: Heimat. Eine unversehrte Dorfwelt, in der althergebrachte Moral- und Wertvorstellungen noch zu ihrem Recht kamen, präsentiert DER PFARRER VON KIRCHFELD (A 1914). Die Kinopioniere Louise Kolm und Jakob Fleck schufen mit ihrer Anzengruber-Verfilmung den prototypischen österreichischen Heimatfilm und ein Leitfossil des Genres. In DER SONNWENDHOF bricht schon die Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs ein, und auch zu Hause brennt es; die Heimat droht verloren zu gehen. Solche Verlustängste werden bei der neuerlichen Verfilmung des PFARRER VON KIRCHFELD (A 1937) zur realen Erfahrung und bald auch zur bitteren Realität.
Als Louise und Jakob Fleck ihre Tonfilmversion ins Kino brachten, sollte dies die letzte unabhängige Produktion vor dem Anschluss sein. Denn seit April 1936 verpflichteten sich österreichische Produktionsfirmen in vorauseilendem Gehorsam, keine »Nicht-Arier« mehr zu beschäftigen, um auch weiterhin nach NS-Deutschland exportieren zu können.
DER PFARRER VON KIRCHFELD, mit überwiegend jüdischen Filmschaffenden realisiert, nahm diese Einschränkungen in Kauf und lud das Genre mit neuer Bedeutung auf: ein Heimatfilm als eigenständiges und mitunter auch widerständiges Statement gegen die heraufziehende Diktatur. Die meisten der mitwirkenden Filmkünstler:innen mussten ab März 1938 fliehen, wurden verfolgt oder deportiert.
Politische Zäsuren schrieben sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg in das Genre ein. In der erst kürzlich wiederentdeckten, ausschließlich an Tiroler Originalschauplätzen gedrehten Produktion DIE SONNHOFBÄUERIN (A 1948) spiegelt sich die Zeitgeschichte, an der ganze Familien zerbrachen. Heimat wird zum Bollwerk, zum letzten Refugium der zurückgebliebenen Frauen und zur großen Verlusterfahrung der in den Krieg gezogenen Männer. Als der Sonnhofbauer nach vielen Jahren wieder zurückkommt, ereilt ihn das Schicksal vieler Kriegsheimkehrer: Seine Frau hat eine neue Liebe gefunden. Der hier zu sehende Realismus, den das ressourcenarme, aber für Wirklichkeitseinblendungen noch offene Kino der unmittelbaren Nachkriegsjahre immer wieder hervorbrachte, sollte sich aber bald aus der österreichischen Filmproduktion verabschieden.
Ab den 1950er-Jahren übte sich das Kino im schönen Eskapismus, breitete sich der Bilderhorizont der Klischee-Produktion erfolgreicher denn je auch auf dem deutschen Markt aus. Der Heimatfilm wurde somit zum wichtigsten Exportartikel einer selbstvergessenen Filmwirtschaft, die sich ihren Fortbestand außer-halb dieser kulturindustriellen Zwänge bis Ende der 1960er-Jahre kaum vorzustellen vermochte.
Abgesehen von Georg Tresslers DER WEIBSTEUFEL (A 1966) sind nennenswerte Erneuerungen und Aufbrüche erst in den 1970er-Jahren zu verzeichnen. Der ORF schuf damals Experimentierflächen und Möglichkeitsräume für ein anderes Filmschaffen. Schneisen für die Neuvermessung der Heimat schlug etwa die Serie VIELGELIEBTES ÖSTERREICH (A 1975–1977). In Elfriede Jelineks Filmessay »Ramsau am Dachstein« (A 1976) wird die Heimat sukzessive dekonstruiert. Fritz Lehners »Freistadt« (A 1976) wirft einen nüchternen Blick auf ein Land im strukturellen Wandel und zeigt die Transformation des für den Heimatfilm prägenden Bauernstandes in eine Industriegesellschaft. SCHÖNE TAGE (A 1981) zeigt den harten Alltag in der Landwirtschaft und stellt die unbarmherzigen Seiten des Dorflebens offen zur Schau. Mit diesem Anti-Heimatfilm beginnt das österreichische Kino, das Genre von hinten aufzurollen. Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse werden dargestellt, Rollenbilder hinterfragt.
Den Heimatbegriff zu wenden, das Vertraute wieder zu etwas Fremden zu machen, das es neu zu entdecken gilt, öffnet noch nicht gesehene Orte und Räume für kinematographische Exkursionen im eigenen Land. Karin Brandauers ERDSEGEN (A/BRD 1986) setzt diese Suchbewegung fort, und in HEIDENLÖCHER (Wolfram Paulus, A/BRD 1986) findet der neu formatierte Heimatfilm wieder unmittelbaren Anschluss an seine historische Bedingtheit. Wie sich das österreichische Kino mit den großen Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten Jahre auseinandersetzt, präsentieren wir im abschließenden Teil unserer Landvermessung im Dezember 2025. (Ernst Kieninger)