Retrospective
Ulrich Seidl
Das Gesamtwerk
20.1.–4.3.2023
»Ich mache manchmal Spielfilme mit Doku-Elementen und manchmal Dokus mit Spielfilmelementen. Filme, eben.«
Ulrich Seidl
1952 in Wien geboren, verbringt Seidl den größten Teil seiner Kindheit und Jugend im Waldviertel, wo er in einem streng katholischen Elternhaus aufwächst. Lange Zeit sollte er, deren Wunsch entsprechend, Priester werden, doch in seiner Jugend beginnt er diese Prägung zu hinterfragen. In einem katholischen Internat bekommt er die Härte dieses Systems am eigenen Leib zu spüren – später wird er sich in seiner Arbeit immer wieder mit der Doppelmoral und Verlogenheit von Kirche und Gesellschaft auseinandersetzen. Vor der Filmakademie studiert er »alibimäßig« Publizistik, Kunstgeschichte und später auch Theaterwissenschaft und verdient sein Geld mit Gelegenheitsjobs – ähnlich wie auch Werner Herzog, der spätere Bewunderer und Förderer Seidls, auf dessen Film AUCH ZWERGE HABEN KLEIN ANGEFANGEN sein allererster Film EINSVIERZIG rekurriert. Schon diese Arbeit löst Unbehagen, Verstörung und Ablehnung aus, während sein nächster Film DER BALL dafür sorgt, dass er die Filmakademie »unehrenhaft« verlässt.
Seit damals hält sich der Vorwurf, Seidls Filme seien voyeuristische Sozialpornografie, er suche seine Figuren und Geschichten bewusst in Außenseitern und Minderheiten abseits der bürgerlichen Norm, um sie vor der Kamera bloßzustellen. Doch nichts liegt Seidl ferner als die Befriedigung primitiver Schaulust. Einsamkeit ist das zentrale Thema, das sich durch all seine Arbeiten zieht. Er solidarisiert er sich mit den Wohlstandsverlierern, den Übersehenen, den Desillusionierten, nimmt sie und ihre Gedankenwelt ernst. Schon die formale Gestaltung seiner Filme – lange, tableauartige und extrem präzise eingerichtete Einstellungen auf der einen Seite, die Aufhebung der Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem und damit einhergehende Abwesenheit klassischer Dramaturgie auf der anderen – gibt einen Hinweis darauf, dass er seine Arbeiten nicht als leichte Konsumware verstanden wissen will. Seidls Kino ist ein Kino der Verstörung.
Darin liegt dessen Faszination, dessen Qualität und dessen Problematik. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Filmemacher wagt er sich in ästhetische und inhaltliche Grenzbereiche vor und lotet dabei existenzielle Fragen aus. Es ist diese Haltung, die die Filme auch extrem angreifbar macht: Seidl bringt sein Publikum in moralische Zwickmühlen, indem er ihm so lange einen Spiegel vorhält, bis es sich in irgendeiner Form zum Gezeigten verhalten muss. Und dabei bewahrheitet sich, was der amerikanische Skandal-Regisseur John Waters über seinen österreichischen Kollegen treffend sagt: »Niemand ist vor Ulrich Seidl sicher.« (Florian Widegger)