Retrospective
Höhenfeuer
Die »neue Welle« im Schweizer Kino 1964–1985
13.9.–19.10.2022
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts macht das Schweizer Kino kaum von sich reden. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist das Land hauptsächlich als Motivgeber für auswärtige Produktionen interessant, erst ab Mitte der 1930er-Jahre kommt es zum Umschwung. Der Begriff der »geistigen Landesverteidigung« beginnt angesichts der Lage in Europa die Kulturpolitik zu prägen. Vor allem die von der Praesens-Film AG produzierten Filme feiern daraufhin nationale und internationale Erfolge und zeigen die Schweiz als Hort von Redlichkeit, Humanismus und schöner Landschaften. Etwa eine Dekade lang geht das gut, mit dem Wirtschaftsaufschwung in den 50ern ändern sich die Zeiten jedoch erneut, und das Schweizer Kino versucht, ähnlich wie das österreichische, ihnen mit Kleinbürger- und Heimatfilmen gerecht zu werden – vergeblich.
Während in anderen europäischen Ländern 1960 Aufbruchsstimmung herrscht, scheint es bei den Eidgenossen nicht einmal Nachwuchs zu geben, um das Erbe anzutreten. Selbst das 1962 beschlossene Filmgesetz, mit dem sich der Staat zu engagieren versucht, wirkt dem entgegen. Das Wunder geschieht 1964 mit Alexander Seiler und Alain Tanner. Die beiden Mittdreißiger können zu dieser Zeit bereits auf beachtliche Erfolge im Ausland zurückblicken, haben sie mit SIAMO ITALIANI und LES APPRENTIS zwei Dokumentarfilme im Stil des Cinéma vérité vorgelegt, die erstmals die unmittelbare Lebensrealität in der Schweiz reflektieren und damit den Stein ins Rollen bringen. Schon zwei Jahre später finden erstmals die Solothurner Filmtage statt, bis heute das bedeutendste Festival für den Schweizer Film und wesentlicher Umschlagplatz für Gedanken, Inspirationen und Projekte.
So entwickelt sich innerhalb weniger Jahre eine komplett neue Kinematografie, die nicht nur beim heimischen Publikum, sondern auch auf Filmfestivals außerhalb auf Zuspruch stößt. Während im westlichen Teil des Landes – wohl auch aufgrund der Nähe zum cinephilen Frankreich – experimentierfreudige und innovative Spielfilme rasch aus dem Boden sprießen, zieht der deutsch-/italienischsprachige Osten mit etwas Verspätung und deutlichem Fokus auf dokumentarische Formen erst Anfang der 1970er-Jahre nach. Ein anderes Kino ist plötzlich möglich: In seinem Zentrum stehen Eigenbrötler und Außenseiter, die alleine oder in der Gruppe ihren Platz in der Gesellschaft suchen oder ihr mit allen Mitteln entkommen wollen – manchmal sogar beides gleichzeitig. Von solchen Widersprüchen lebt nicht nur der Schweizer Film, er bezieht daraus auch seine besondere Kraft und seinen Charme – und überrascht damit immer wieder aufs Neue. (Florian Widegger)