Retrospective
Kafka im Kino
Zum 100. Todestag
21.5.–22.6.2024
Als Kafka in den 1910er-Jahren in die neu gegründeten Lichtspielstätten pilgert, hat das noch junge Medium Film etwas Anrüchiges. Die grelle, tief im proletarischen Milieu verwurzelte Attraktion, das elementare Spiel mit der Schaulust beginnt erst langsam, so etwas wie eine erste Kultivierungsphase zu durchlaufen und »erwachsen« zu werden. Kafkas Zugang erscheint dabei – wie sich aus den spärlichen Tagebucheinträgen herauslesen lässt – rauschhaft-exzessiv und naiv-staunend, eine tiefergehende Analyse des Gesehenen gibt es nicht. Er kennt die Prager Kinoprogramme auswendig, sein freudloser Arbeitsplatz bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung liegt nur wenige Schritte vom Kino Lucerna entfernt, das er nach verrichtetem Tagwerk häufig besucht. Das – und der Umstand, dass sich auch sein Beziehungsleben nicht sehr ergiebig gestaltet – mag mit ein Grund dafür sein, weshalb er eine besondere Vorliebe für actiongeladene Sensationsfilme, exotischen »Kintopp« und, wie er es einmal bezeichnet, »maßlose Unterhaltung« hat. Wie Hanns Zischler in Kafka geht ins Kino schreibt: »Mehrmals im Jahr flüchtet Kafka sich ins Kino, um etwas zu suchen, das ihn betäubt. Er geht ins Kino, um zu vergessen. Es gibt keinen geeigneteren Ort, an dem dies mit Genuss erreicht werden kann.«
Eine kleine Auswahl von Filmen, die Kafka selbst im Kino gesehen und in seinen Tagebüchern vermerkt hat, bildet das Herzstück dieser Retrospektive. Es sind »skandalöse« Kolportagefilme aus Dänemark und Frankreich, die auch zeigen, dass Film schon damals eine weit über den lokalen Tellerrand hinaus vertriebene Ware war, und dass sich langsam, aber sicher die Transformation von der Jahrmarktsattraktion hin zum etablierten Kunstwerk vollzog. Anders als Kollegen wie Schnitzler oder Hauptmann ist Kafka jedoch nicht am Medium Film als Arbeitsfeld oder Einkommensquelle interessiert, es dient ihm lediglich zur Zerstreuung. Umgekehrt dauert es beinahe 40 Jahre, bis das Kino Kafka als Inspiration heranzieht – als unverfilmbar galten seine Werke. Ausgerechnet Orson Welles, das einstige Hollywood-Wunderkind mit großen Ambitionen und noch größerem Hang zum Perfektionismus, gelang dieses Kunststück mit LE PROCÈS. Inzwischen scheint es fast so, als wäre die einstige Faszination seines Schaffens übergegangen auf die Person: Anlässlich seines 100. Todestags ist Kafka selbst zum Serienstar geworden, der das Fernsehen und Streamingplattformen erobert. Aber das ist eine andere Geschichte. (Florian Widegger)