Retrospective
KLAUS WILDENHAHN
DIE ERRETTUNG DER PHYSISCHEN REALITÄT
26.3.–28.3.2019
Mit Gedichten wie Frühschicht, die er während seiner Zeit als Pfleger in einer Londoner Nervenheilanstalt geschrieben hatte, bewarb sich Klaus Wildenhahn im Alter von 29 Jahren bei einem Produzenten der ARD-Fernsehlotterie. Die Spots, die er dort half zu realisieren, führten ihn zum NDR, wo er schließlich als festangestellter Redakteur seine eigenen Filme machte. Ein Erweckungserlebnis, das sein ganzes weiteres Leben prägte, war die Begegnung mit Richard Leacock, Pionier des Direct Cinema. Den anfangs spektakulären Filmen der Drew Associates und ihrer Methode hat Wildenhahn den nachkriegsdeutschen Blick eines intellektuellen, sozial hellwachen, behutsamen Menschenfreunds hinzugefügt, der vor allem jenen Gesicht und Stimme geben wollte, die vom Mainstream übergangen wurden. Mit dieser Haltung schuf er 1975/76 gemeinsam mit Gisela Tuchtenhagen den Vierteiler EMDEN GEHT NACH USA über Aktionen und Reaktionen angesichts der Errichtung eines amerikanischen VW-Zweigwerks.
Die EMDEN-Serie sowie der Ostfriesland-Film IM NORDEN DAS MEER – IM WESTEN DER FLUSS – IM SÜDEN DAS MOOR – IM OSTEN VORURTEILE, der unter anderem das ehemalige KZ Esterwegen zeigt, werden Gegenstand einer gesteuerten Hetzkampagne. Der NDR knickt ein und verbannt ihn ins dritte Programm, getroffen wechselt Wildenhahn zum WDR. Mit dem Mühlheimer Lyriker Günter Westerhoff dreht er drei Filme, wird Mitinitiator der Duisburger Gruppe Gewerkschaft und Film und entwickelt die Idee zum Solidaritätsfilm TOR 2. Seine Faszination für den Alltag einfacher Menschen teilt er mit Leacock und den Meistern der britischen Dokumentarfilmschule: Harry Watt, Basil Wright und Humphrey Jennings. »Humphrey Jennings was a man of many parts: a student of the critic William Empson, a surrealist painter, an imagist poet, an essayist, a broadcaster, a critic, and a man deeply interested in the condition of England«, schreibt Wildenhahn in Der Körper des Autoren.
Wie Jennings war Wildenhahn »a man of many parts«: Lyriker, Erzähler und Tonmeister, Dozent, Filmessayist, Filmtheoretiker und weltoffener Denker, ein Mann mit tiefer Empathie für Menschen aus vielen Berufen und Schichten. Seine Filme sind wie er selbst »of many parts«, reichhaltig, anregend und angstfrei. Gemeinsam mit Gisela Tuchtenhagen und MitstreiterInnen gründet Wildenhahn 1998 die Werkstatt Dokumentarisch Arbeiten. 2000 folgt sein letzter Film: EIN KLEINER FILM FÜR BONN. »Noch einmal Augenzeuge sein, aber nicht notwendigerweise Zusammenhänge verstehen …« – ein kleiner Film und ein Vermächtnis, das nach nahezu zwei Jahrzehnten bereits wie eine kostbare Flaschenpost aus einer anderen Welt anmutet. (Rainer Komers)
Wir warten in den leeren Wegen der ausgehenden schieferfarbenen Nacht. Wir warten. Wir verhalten den Laut unserer Schritte auf dem hölzernen Gerüst von S-Bahntreppen und auf Straßen früh. Wir wachen unter dem schaukelnden Licht der Bahnsteiglampe eine kleine Viertelstunde die stille Stunde des Tages in der von der Dämmerung her die erste Waschung sich in unsere Augen tastet. Von fern durch den Grund der Stille schellt der erste Weckerschlag der Stadt ein Zug in seinen metallenen Gleisen. Klaus Wildenhahn, Frühschicht 2