Retrospective
Stunde Null
Europäisches Kino zwischen Trümmern und Träumen
7.4.–6.5.2020
Mit der Kapitulation der Wehrmacht geht am 8. Mai 1945 ein fast sechs Jahre dauerndes Morden auf unserem Kontinent zu Ende. Ein Krieg, der Millionen Opfer gefordert und eine bis dahin unvorstellbare Zerstörung hinterlassen hat. Erst nach und nach kristallisiert sich das ganze Ausmaß dieser Katastrophe heraus. Auch das Kino befindet sich zu dieser Zeit an einem absoluten Wendepunkt, denn Film stellt – damals wie heute – eine direkte Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart her. Und so obliegt Drehbuchautoren, Produzenten und Regisseuren ein immenses Maß an Verantwortung. Sie können neue Filmsprachen und Formen entwickeln, um ihr Publikum mit den drängenden Fragen der Zeit zu konfrontieren, oder – wie es in Österreich großteils geschieht – identitätsstiftend wirken und kulturelle und Geschichtsmythen reanimieren. Nicht umsonst überdauert das Selbstmissverständnis, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, hierzulande Jahrzehnte. Aufgebaut werden sollte vor allem das, was von der Vergangenheit übrigblieb.
Im geteilten Deutschland hingegen etablieren sich die sogenannten Trümmerfilme, die verhältnismäßig offensiv die Verantwortungs- und Schuldfrage stellen – zumindest so lange, bis Ende der 1940er-Jahre mit der Währungsreform das Zeitalter des Wirtschaftswunders eingeläutet wird. Kaum geht es den Menschen wieder »besser«, wird die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Geschichte vermieden. DER VERLORENE von Remigrant Peter Lorre, der das Land nach den Reaktionen auf seinen Film für immer verlässt, bildet deshalb den zeitlichen Schlusspunkt der Retrospektive.
Lediglich im Kino der DDR kultiviert man naturgemäß eine antifaschistische Grundhaltung, die sich aber bei Weitem nicht so viel traut, wie das bei FilmemacherInnen aus Polen oder der Tschechoslowakei der Fall ist. In drastischen Bildern vermitteln sie ihre Erfahrungen, von den Schrecken des Krieges bis zu den Erlebnissen in den KZs. Die filmhistorisch wohl einflussreichste Strömung entsteht in Italien: Der Neorealismus versucht, der Wirklichkeit im Kino so nahe wie möglich zu kommen. Gedreht wird mit Laien an Originalschauplätzen, die Geschichten sind aus dem Leben gegriffen.
Und auch das andere Extrem treibt ganz besondere (leider heute wenig bekannte) Blüten. FilmemacherInnen, die alle magischen Register der Kinoapparatur ziehen, um dem sie umgebenden Wahnsinn zumindest in Ansätzen gerecht zu werden. Bei aller Düsternis zeugen diese Zeitdokumente auch von der beharrlichen Suche nach einem Neubeginn. Ein gewagter Blick in die Zukunft. (Florian Widegger)