Retrospective
Helene Thimig
(K)Eine Filmkarriere
21.10.–1.12.2024
»Das gegenwärtige Theater ist unruhig und tastet nach allen Seiten. Weil es wie alle Künste dieser Zeit auf der Suche ist nach einer neuen Form. Und wenn auch die meisten Schauspieler durch den Film zeitweilig oder ganz aufs schwerste künstlerisch geschädigt sind (…), ein paar Schauspieler und Schauspielerinnen gehen unbeirrt auf einem guten Wege und zu einem guten Ziel. Von den wenigen wird – wie immer – das Schicksal vieler abhängen. Helene Thimig geht in der ersten Reihe der Unbeirrten.« So urteilt Fritz Schwiefert in dem bereits 1923 in Berlin erschienenen kleinen Büchlein abschließend über Helene Thimig. Zu diesem Zeitpunkt ist die am 5. Juni 1889 geborene Schauspielerin bereits ein »Star« auf der Bühne. Bis sie vom Film entdeckt wird, werden noch ganze sieben Jahre vergehen, »künstlerisch geschädigt«, da sollte Schwiefert recht behalten, wird sie auch später dadurch nicht.
Dabei hätte vieles anders kommen sollen: Helene Thimig wird in eine Theaterfamilie hineingeboren. Während Großvater August noch dem ehrbaren Beruf des Handschuhmachers in Dresden nachging, entdeckt Vater Hugo (1854–1944) schon bald seine Liebe zur darstellenden Kunst: Mit 20 Jahren ist er Mitglied des k. u. k. Hof-Burgtheaters, verblüfft mit Witz und Intelligenz, erobert rasch das aristokratische und bürgerliche Publikum in Wien und heiratet Fanny Hummel, eine Kaufmannstochter aus Stuttgart. Helene ist das erste von insgesamt vier Kindern. Im Gegensatz zu ihren Brüdern will Hugo Thimig die einzige Tochter um jeden Preis vom »Theaterteufel« fernhalten – vergebens. Wie sie später erzählen wird, habe sie bereits im Alter von zehn Jahren gewusst, dass sie Schauspielerin werden wolle. Der Vater nimmt ihre Ambitionen allerdings nicht ernst: Er schickt sie zu seiner Kollegin Hedwig Bleibtreu, die die inzwischen 17-Jährige begutachten soll – und sie mit den Worten »Na, es reicht höchstens für die Provinz« abkanzelt. Gänzlich unbeeindruckt dürfte die Burgschauspielerin allerdings doch nicht gewesen sein, schließlich erteilt sie Helene Unterricht und verhilft ihr zu ersten kleinen Auftritten – allerdings noch unter falschem Namen. Zwei Jahre später führt ihr erstes Engagement sie dann ans Hoftheater von Meiningen, das jedoch noch vor ihrer ersten Vorstellung bei einem Brand zerstört wird. Als wäre das nicht genug, sind auch die ersten Kritiken ablehnend. Über ihre Darstellung in Der Erbförster von Otto Ludwig heißt es in einer Rezension: »So blühend und schön wie Fräulein Thimigs Marie auf der Bahre ausschaute, so soll sie im Leben sein.«
Eine Gestalterin »wundervoller Menschenbilder«
Der Anfang könnte also holpriger nicht sein. Trotzdem versteht es Helene Thimig schon sehr früh, das Publikum mit ihrer Natürlichkeit und ihrem Witz auf ihre Seite zu ziehen. Es dauert nicht lange, und sie gilt als Gestalterin »wundervoller Menschenbilder«. Nach drei Jahren in der Provinz wechselt sie 1911 ans Königliche Schauspielhaus in Berlin, wo sie als Schauspielerin vollends heranreift und auf den Mann trifft, der ihr Leben und ihre Kunst wie kein anderer beeinflussen sollte: Max Reinhardt (1873–1943), das Theaterwunderkind, der bereits mit Anfang 20 auf den Bühnen Berlins die Revolution ausruft, indem er einen Beruf erfindet, den es bis dahin so noch nicht gab: Regisseur. 1913 bittet er sie um ein Vorsprechen, die Stimmung beim ersten Aufeinandertreffen ist noch eisig. Auch in diesem Lebenskapitel Thimigs gibt es Startschwierigkeiten. Erst vier Jahre später wird die junge Frau, in der Reinhardt so viel Energie verschwendet sieht, für ihn auf der Bühne stehen. Inzwischen hat sie einen Schauspielerkollegen geheiratet, weniger aus Liebe, sondern weil es sozial erwünscht ist, und zieht als Kontrast zu den damaligen Modeschauspielerinnen weiterhin Aufmerksamkeit auf sich, indem sie Reinheit ausstrahlt, gelegentlich jedoch auch mit Sarkasmus, skurrilem Humor und Eigensinn überrascht.
Mit Beginn der Zusammenarbeit intensiviert sich auch ihre private Beziehung. Reinhardt ist ebenfalls verheiratet. Dem Vater Hugo Thimig ist der erfolgreiche Theatermann zunächst ein Dorn im Auge – und wie in einem Shakespeare’schen Familiendrama müssen sich die beiden Liebenden versprechen, sich ein Jahr lang nicht zu sehen, um herauszufinden, ob ihre Liebe stark genug ist (ein »Experiment«, das schiefgeht, aber zumindest den Widerstand des Vaters nach einiger Zeit bricht). Als Reinhardt das Angebot bekommt, in Salzburg ein Sommerfestival auf die Beine zu stellen, nimmt er an – und ein zähes Ringen um dessen Ausrichtung beginnt. Bis heute geblieben ist Hofmannsthals Jedermann, dem Helene Thimig von der Premiere bis lange nach Reinhardts Tod erhalten bleibt: Erst in der Rolle der »Guten Werke«, dann als »Glaube« und auch als Regisseurin.
Erster Filmauftritt in MENSCH OHNE NAMEN
Die nächste gemeinsame Station ist Wien, wo Reinhardt das Theater in der Josefstadt ab 1924 auf Vordermann bringt und zum »Thimig-Theater« macht, in das die ganze inzwischen befriedete Familie mit einbezogen ist. Im selben Jahr führen ihn erste Gastspiele an den Broadway – die Unternehmungen florieren sowohl in der Alten als auch in der Neuen Welt. Stets an seiner Seite: Helene Thimig, die sich in dieser Zeit allerdings von den übermächtigen Männern in ihrem Leben zu emanzipieren beginnt und eigene Karriereentscheidungen trifft. Triumphe feiert sie, ob mit oder ohne Reinhardt, in Hofmannsthals Der Schwierige, in Hauptmanns Dorothea Angermann oder in Goethes Iphigenie auf Tauris. Obwohl ihr Partner bereits in den 1910er-Jahren das damals noch junge Medium Film entdeckt und mit seinen künstlerischen Ansprüchen zu neuen Ufern geführt hat, hat sie ihren ersten und vorläufig einzigen Auftritt in einem Film erst 1930 in Gustav Ucickys MENSCH OHNE NAMEN, an der Seite von Werner Krauß, einem Kollegen aus ihren ersten Tagen im Ensemble von Max Reinhardt. Die wenigen Minuten, in denen sie von der freundlich-liebevollen zur versteinert-ablehnenden Frau changiert, zeigen bereits ihre ganze Bandbreite.
1933 geht dann alles ganz schnell. Wenige Wochen nachdem die Nazis an die Macht kommen, verliert das Theaterpaar aufgrund eines Finanzabkommens zwischen den beiden Ländern alles. Im amerikanischen Exil wird Reinhardts Inszenierung von Shakespeares Ein Sommernachtstraum ein Renner, den er sogleich auch bei Warner Bros. verfilmen kann – ohne Helene Thimig. Bis 1937 reisen sie noch regelmäßig zum Arbeiten nach Österreich, mit dem »Anschluss« ist es auch damit vorbei. Nun zählen die beiden nicht mehr zu den privilegierten Gästen der USA, sondern sind Emigranten wie alle anderen, die täglich ums Überleben kämpfen müssen. In Hollywood gründen sie den Max Reinhardt Workshop, eine Schauspielschule mit angegliedertem Theater, doch die großen Pläne zerschlagen sich. Während Reinhardt in New York versucht, Geldgeber für seine Ideen zu finden (und sich dabei immer mehr verschuldet), bleibt Helene Thimig zurück, um Geld zu verdienen. Bert Brecht, der sie 1942 besucht, beschreibt sie als »müden, abgearbeiteten Todesengel«. Bei den meist kleinen Filmauftritten, mit denen sie sich über Wasser hält, wird sie oft nicht einmal in den Credits genannt. In einem ihrer Briefe an den Geliebten schreibt sie über die Dreharbeiten von EDGE OF DARKNESS (Lewis Milestone, 1943): »Ich möchte so gerne wirklich gut sein in dieser Rolle – ob es dazu kommen wird, hab’ ich keine Ahnung. (…) Wenn nur die Sprache nicht solch ein trennendes Element wäre! (…) Niemand nimmt Rücksicht, aber ich bin mir der Hemmung dauernd bewusst. (…) Deshalb bin ich so ein Outsider, genau, was gerade in diesem Land niemand leiden kann.« Der ausführliche Briefwechsel zwischen Thimig und Reinhardt im Exil, in dem die »Banalitäten« des Alltags genauso Platz finden wie die tiefe Verzweiflung über die Entwurzlung und Trennung, ist 2023 im Residenz Verlag erschienen.
»Dieses starke Gefühl von reiner Humanität«
Nach Reinhardts plötzlichem Tod am 31. Oktober 1943 tritt sie in Filmen von Exilanten wie Fred Zinnemann, William Dieterle und Fritz Lang auf – und spielt größere Rollen bei Anthony Mann und Mark Robson. 1946 dann eine Nachricht aus Europa: Sie soll beim ersten Nachkriegs-Jedermann mitwirken. Die erste Heimkehr ist zwar vorerst nur vorübergehend, aber bereits triumphal: Wie eine Landesmutter wird sie am Bahnhof in Salzburg empfangen. Bevor sie sich endgültig entscheidet, zurückzukommen, geht sie noch einmal für kurze Zeit in die USA. Julius Bab, ein langjähriger Kenner und Begleiter, verfasst in einer deutschsprachigen Zeitung in New York einen kleinen Rückblick auf ihre Filmauftritte: »Immer war es schön, dieses unverwechselbar eigenen Menschen Nähe [auf der Leinwand, Anm.] zu spüren – dieses starke Gefühl von reiner Humanität, diese verhüllte Klage in der ziehenden zögernden Stimme, dieses scheue Lächeln, das große Güte verbirgt.«
In Österreich wird sie bald wieder an die alten Erfolge anschließen und bis wenige Monate vor ihrem Tod im November 1974 auf der Bühne stehen. Wird als Pädagogin, Regisseurin und Schauspielerin die künstlerischen Leitsätze ihres verstorbenen Mannes weitertragen und an neue Generationen weitergeben. Und um ihre Verdienste rund um den kulturellen Wiederaufbau des Landes geehrt. Dem Film jedoch wird sie, mit wenigen kleinen Ausnahmen, recht schnell wieder abhandenkommen. Bereichert hat sie ihn, wohl eher widerwillig durch äußere Umstände gezwungen und unabhängig von deren Größe, mit der sorgfältigen Gestaltung ihrer Rollen – die selbst dann in Erinnerung bleiben, wenn sie nur kurz durchs Bild huscht. (Florian Widegger)