
Kino steht immer in einem bestimmten Verhältnis zur Realität seiner Zeit. Wie österreichische Filme die Nähe oder auch die Distanz zur Wirklichkeit gestaltet haben, wie sie direkte Allianzen mit dem gesellschaftlichen Alltag gesucht und die brennenden Fragen der Gegenwart aufgegriffen haben, daran ermisst sich auch ihre jeweilige film- und kulturhistorische Relevanz. Filme, die heute noch unmittelbare Erfahrungen ihrer Entstehungszeit beglaubigen können, stehen im Zentrum dieser fünften Ausgabe der Landvermessung.
Realitäten des Kinos
Österreichische Filme am Puls der Zeit
Es mag heute eine Binsenweisheit sein, wenn man behauptet, dass jeder historische Film ein Zeugnis seiner Zeit sei. Denn die Ästhetik des Kinos ist immer ein Resultat einer Beziehung, die das Medium mit den gesellschaftlichen, politischen, aber auch den ökonomischen Verhältnissen eingegangen ist. Realität und deren kinematographische Reproduktion sind also historisch bedingt. Die Frage ist nur, mit welcher Authentizität und Intensität sich die Wirklichkeit in die bewegten Bilder einschreiben konnte.
Zunächst einmal zählte die Abbildung des realen Lebens zur größten Attraktion des frühen Kinos. Die heute fast naiv anmutende dokumentarische Geste, auf die Objektivität der Filmkamera zu vertrauen, brachte – beginnend mit den Gebrüdern Lumière – ein Laufbilduniversum hervor, das die kinematographische Vermessung der sichtbaren Welt zum Ziel hatte. Die Filmchronisten drangen dabei bald auch in die Welt des Lokalen vor. Die ersten österreichischen Filme wurden von Wanderkinobesitzern gedreht, die gefilmte Alltagsszenen vor den Schaubuden in zugkräftige Leinwandspektakel verwandelten.
Die österreichische Filmproduktion entwickelte sich auch danach so quasi auf der Straße. Denn filmkulturelle Infrastrukturen mit Studios, Professionisten und potenten Finanziers ließen hierzulande noch länger auf sich warten. Gefragt waren daher Improvisationstalent und die Kunst, mit bescheidenen Mitteln dennoch Kinematographisches aus dem Boden zu stampfen. Das begünstigte auch über die Pionierjahre hinaus für längere Zeit die dokumentarischen Formen.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges aber fand sich das Kino plötzlich auf einem Scheideweg. Die seit 1900 so selbstverständliche filmische Anverwandlung des Wirklichen durch das Kameraobjektiv verlor spätestens dann seine Unschuld, als man die Brisanz und auch die Gefahr der ungefilterten Reproduktion der Ereignisse erkannte. Das Filmprogramm zu den Realitäten des Ersten Weltkrieges zeichnet die Genese hin zu den vom k. u. k. Kriegspressequartier ab 1915 gegängelten, gedrehten und manchmal auch gewendeten Bildern nach.
Eine unmittelbare Reaktion auf die von staatlichen Stellen besetzten Laufbilder des Ersten Weltkrieges war die emanzipatorische Filmarbeit der Arbeiterbewegung. Die Wirklichkeit, die zu Beginn der Filmgeschichte als voraussetzungslose und objektive Entität erschien, wurde nun als gestaltbare Motivsammlung für den politischen Kampf genutzt. Auch das proletarische Kino musste in Österreich ohne geeignete Produktionsstrukturen auskommen. Sozialrealistische Spielfilme wie NAMENLOSE HELDEN (1924), später auch DAS NOTIZBUCH DES MR. PIM (1930) bildeten bestenfalls Halbinseln gegen den Strom. Abseits der Hermetik ausgeklügelter Studiosysteme entwickelte die Arbeiterschaft jedoch eine erstaunliche Fähigkeit, mit dokumentarischen Formaten Monumente des Geschichtsbewusstseins zu erzeugen, die nicht nur für den Augenblick, sondern offensichtlich auch für die Nachwelt geschaffen wurden.
Die linke Filmproduktion, die Idee, gesellschaftliche Verhältnisse durch das Kino zu vermitteln, blieb in Österreich ein unvollendetes Projekt. In den 1930er-Jahren – mitten in der Zeit der Depression und der Massenarbeitslosigkeit – knüpfte der Kosmopolit Paul Fejos an die Ideen des proletarischen Kinos an. SONNENSTRAHL (1933) war für längere Zeit der ausgeprägteste Versuch, die Filmarbeit für Wirklichkeitseinbrüche zu öffnen.
Bezeichnend für die Marginalisierung eines realitätsnahen Kinos in Österreich mag sein, dass die interessantesten Produktionen immer wieder von Außenseitern auf die Beine gestellt wurden. Abseits von schwerfälligen Studiokulissen und zeitfernen Heimat-Idyllen, innerhalb derer sich das miefige und geschichtsvergessene österreichische Kino der 1950er-Jahre bald bequem einrichtete, zeigte etwa Harald Röbbelings ASPHALT (1951) ungefilterte Bilder des grauen Lebens auf den Straßen Wiens. Fast im Stil des italienischen Neorealismus werden fünf Geschichten aus gesellschaftlichen Randzonen vorgeführt, die bis dato noch kaum von Filmscheinwerfern erhellt wurden. Ebenfalls an der Peripherie der Stadt und der Gesellschaft angesiedelt ist Kurt Steinwendners im gleichen Jahr entstandenes Opus magnum WIENERINNEN. Ein Film, der noch heute wie eine – damals viel zu wenig beachtete – Wegmarke für ein anderes österreichisches Kino erscheint.
Etwa 15 Jahre später entstand im südlichen Niemandsland von Wien DIE VERWUNDBAREN, ein Film mit einem fast programmatischen Titel bezüglich der weiteren Überlieferungsgeschichte. Denn im Entstehungsjahr 1967 fand diese bemerkenswerte Low-Budget-Produktion von Leo Tichat, eines der wenigen österreichischen Beispiele für die Auseinandersetzung mit der filmischen Moderne jener Zeit, keinen Verleih. Der Film mit offenen Anspielungen auf das Tabuthema Homosexualität erreichte erst in einer neu geschnittenen Fassung unter dem Titel ENGEL DER LUST die (Sex-)Kinos. Letztlich ist auch die Frage, welche Bilder überleben, welche nach Jahren und Jahrzehnten noch gezeigt und gesehen werden können, ein Teil der Kinorealität. Und diese liegt ganz stark in der Verantwortung der Filmarchive. (Ernst Kieninger)



















